Häufig kommen Eltern mit dieser Frage zu uns in die Praxis: „Braucht unser Kind Ergotherapie?“
„Irgendetwas“ laufe nicht ganz rund, aber man kann nicht genau in Worte fassen was. „Irgendjemand“ sage, das Kind braucht Therapie, einem selber wäre aber noch gar nichts aufgefallen. Oder umgekehrt: man mache sich Sorgen um sein Kind, obwohl Kindergarten und Schule bisher nichts dergleichen bemerkt hätten.
Die Frage, ob ein Kind das keine eindeutige Behinderung oder Entwicklungsverzögerung aufweist, Ergotherapie braucht, ist tatsächlich auf den ersten Blick nicht ganz leicht zu beantworten.
Ich möchte es dennoch möglichst einfach halten, und die Frage mit 3 Gegenfragen beantworten, die ich mir stelle, wenn ein Kind zur Begutachtung bei mir vorstellig wird.
1. Leidet das Kind?
Das ist tatsächlich die primäre Frage, die für mich im Vordergrund steht. Letztendlich ist es für mich nicht so wesentlich, wie das Kind in einem Koordinationstest abschneidet, ob es beobachtbar gewisse Fertigkeiten nicht altersgemäß schafft oder sein Verhalten nicht der erwartbaren „Norm“ entspricht.
So gibt es Kinder, die objektiv gesehen relativ deutliche Defizite aufzeigen, emotional aber sehr robust wirken, trotz ihrer Schwächen sozial gut integriert sind und ein Umfeld haben, das offenbar gut aufeinander eingespielt ist. Letztendlich kann es sein, dass so ein Kind vergleichweise erstaunlich wenige Probleme in seinem Alltag hat. Es hat gute Kompensationsmechanismen entwickelt und nutzt seine Ressourcen optimal. Dass es mit 8 Jahren keinen Ball fangen und nicht auf einem Bein hüpfen kann, ist ihm herzlich egal und es macht ihm auch keiner Stress deswegen – es turnt daher trotzdem gerne mit und hat Spaß an Bewegung. Dafür liest es 3 Bücher pro Woche, weiß genau wie ein Verbrennungsmotor funktioniert und obwohl Feinmotorik eigentlich nicht so seins ist, klappt es beim Legotechnik eigentlich super (Motivation sei Dank). Zum Beispiel.
Im Gegensatz dazu gibt es im Großen und Ganzen gut entwickelte Kinder, die aber dennoch sehr traurig sind, dass sie ein bisserl zu patschert sind um mit Freunden Fußball spielen zu können, sich furchtbar ärgern, weil sie das Schreiben so anstrengend finden, oder emotional total unausgeglichen sind, weil sie im Kindergarten oder am Spielplatz rasch reizüberflutet und überfordert sind. Oder das Kind leidet still – zieht sich zurück, hindert sich selbst an Erfahrungen und ist blockiert.
Letztendlich kann es also sein, dass letzteres Kind, das von außen betrachtet eigentlich funktionell „besser“ ist, die Ergotherapie dringender braucht als ersteres Kind. Denn am Ende des Tages geht es in der Ergotherapie nicht in erster Linie darum, Defizite festzustellen und zu therapieren, sondern darum, Leidensdruck vom Kind zu nehmen und es darin zu unterstützen, Freude an seinem Alltag zu finden und am Spielen und Lernen in seiner Umgebung möglichst unbeschwert teilnehmen zu können.
2. Leidet das Umfeld des Kindes?
Es gibt Fälle, da steht das Leiden des Kindes (zumindest nicht offensichtlich) im Vordergrund – dem Kind ist es vielleicht wurscht, dass es mit 5 Jahren noch keinen Knopf schließen oder die Schuhe selber anziehen kann, aber die Eltern und PädagogInnen schnaufen unter der Mehrbelastung. Das Kind hat unter Umständen keine Lust zu zeichnen und findet Stifte einfach blöd, sein Umfeld macht sich aber Sorgen wie dieses Kind dann in der Schule schreiben erlernen soll. Das Kind findet es vielleicht lustig, in der Schule aufzuspringen, rumzurennen und seinem Vordermann das Federpenal auf den Kopf zu werfen – die Lehrperson und die MitschülerInnen finden das aber wahrscheinlich nicht so witzig.
Und auch wenn das Kind unter seinem Verhalten oder „Nicht-Können“ nicht zu leiden scheint – häufig leidet es dennoch, drückt dies aber nicht auf den ersten Blick erkennbar aus. Oder es leidet unter den direkten Auswirkungen: es spielt den Kasperl um zu überspielen, dass es eigentlich noch sehr unselbstständig ist, ist irritiert, dass es dauernd zum Malen angehalten wird obwohl es das partout nicht machen will, oder ist genervt, weil es permanent ermahnt und geschimpft wird. Und damit sind wir dann eigentlich wieder bei Frage 1.
3. Ist zu erwarten, dass das Kind oder sein Umfeld in Zukunft leiden wird?
Manchmal kommt ein Kind zur Begutachtung mit einer etwas unklaren Fragestellung – das Kind sowie Eltern berichten von keinerlei Problemen im Alltag oder sind der Meinung es wäre „eh alles normal“ und sie seien nur hier, weil es eine außenstehende Person empfohlen hat.
In der Diagnostiksituation sind dann aber doch objektiv Schwächen festzustellen, die bei uns ErgotherapeutInnen die Alarmglocken schrillen lassen. Ein blitzgescheites Kind, das im Jahr vor der Einschulung noch nicht weiß, ob die rechte oder linke Hand die Schreibhand ist? Ein herziger 4-Jähriger, der aber nur in der Ecke sitzt und sich nicht zu beschäftigen weiß? Die kreative 10-Jährige, die sich nicht auf 2 Dinge gleichzeitig konzentrieren kann? Der verbal sehr gut entwickelte Knirps, der sogar stolpert, wenn eigentlich gar nichts zu stolpern da ist?
Hier obliegt es uns ErgotherapeutInnen abzuwägen, inwiefern dies Dinge sind, die man durchaus unter „ist halt nicht so sein Ding“ abhaken und so hinnehmen kann, oder ob sie vielleicht bisher den Alltag des Kindes nicht beeinträchtigt haben, aber erfahrungsgemäß mit ansteigendem Alter und Anforderungen ziemlich sicher noch zu Problemen führen werden.
Tatsächlich stimmt der Satz: „Das wächst sich noch aus“ in vielen Fällen nämlich nicht. Die Frage ist eher: wie schätze ich die Gesamtsituation ein? Wirken dieses Kind und die Eltern robust und stärkenfokussiert genug, um geringfügige Schwächen gut ausgleichen zu können? Oder wird hier doch eine etwas gröbere Problematik verdrängt?
Den umgekehrten Fall gibt es natürlich genauso: manchen Eltern muss man direkt ausreden, dass ihr Kind Therapie braucht. Natürlich wünschen sich alle Mütter und Väter für ihre Kinder, dass sie möglichst leicht durch`s Leben kommen, sie mühelos alles meistern und in jedem Bereich gleich gut entwickelt sind. Was selbstverständlich unrealistisch ist. Nicht jede Schwäche ist ein Grund für Ergotherapie, vor allem wenn – siehe oben – kein Leidensdruck vorhanden oder in Zukunft zu erwarten ist. Nicht jedes Kind, das beim 4. Geburtstag noch kein Kreuz zeichnen kann, nicht gekrabbelt ist oder nicht auf den Zehenspitzen gehen kann, muss deswegen gleich therapiert werden. Es zählt das Gesamtbild, das aus vielen Mosaiksteinchen besteht. Fehlen davon zuviele oder ein paar wichtige an der falschen Stelle, wird ziemlich sicher auch ein gewisser Leidensdruck im Alltag da sein. Wenn nicht, so darf man ruhig auch beim eigenen Kind einen gewissen „Mut zur Lücke“ beweisen und Vertrauen in seine Entwicklung haben.
Ist eine oder mehrere der obigen Fragen mit „ja“ zu beantworten, muss ich selbstverständlich in meiner diagnostischen Abklärung feststellen, ob beim Kind Themen vorliegen, die ich in meinem ergotherapeutischen Setting überhaupt bearbeiten kann. Sprich: wird ein Kind von den Angeboten der Ergotherapie profitieren, oder ist es eventuell woanders besser aufgehoben? In letzterem Fall werden wir entsprechend eine Empfehlung aussprechen.
Die Erfahrung spielt hier natürlich eine Rolle. Ganz ehrlich: bei manchen Kindern weiß ich schon in dem Moment, in dem sie zur Tür hereinkommen, dass sie hier richtig sind (auch wenn ich natürlich noch keine Details kenne). Andere sind eher knifflig – in den Diagnostikeinheiten finde ich nichts sehr Aussagekräftiges, ich teile das Kind eigentlich nur wegen der Berichte über die Alltagsprobleme ein – und vier, fünf Einheiten später bricht die unauffällige Fassade des Kindes und die eigentlich zugrundeliegende Thematik kommt immer mehr zum Vorschein.
In der Ergotherapie selbst spielt sich das Geschehen vorwiegend auf der Handlungsebene ab: sich bewegen, spüren, experimentieren, etwas (er)schaffen, Tätigkeiten planen, sich strukturieren, sich als wirksam und als erfolgreich erleben. Im geschützten und genau durchdachten Rahmen wird dem Kind so ermöglicht, Fertigkeiten zu trainieren bzw. weiter auszubauen. Und auch wenn Schwierigkeiten dadurch nicht wie von Zauberhand weggewischt werden (denn das können selbst wir ErgotherapeutInnen nicht) – das Kind wird gestärkt und selbstbewusster in seinen Alltag hinausgehen, denn es hat in der Ergotherapie gelernt Herausforderungen anzunehmen und daran zu wachsen.