Loben oder nicht loben, das ist hier die Frage!

Dürfen wir unsere Kinder noch loben?
Dürfen wir unsere Kinder noch loben?Kann man Kinder zuviel loben?Kinder loben - ja oder nein?Dürfen wir unsere überhaupt Kinder noch loben?

Sowohl als Ergotherapeutin als auch als junge Mutter klicke ich im Allgemeinen sehr interessiert auf Blog- und Zeitungsartikel zu kindbezogenen Themen wie Erziehung, Kindesentwicklung und Beziehungstheorien.

Mit der Zeit kann sich dabei aber durchaus eine gewisse Konfusion breit machen. Denn wird auf der einen Seite betont wie wichtig wertschätzende Kommunikation und Lob für die Kindesentwicklung sei, wird andernorts kritisiert, dass zu inflationär gelobt werde, was die Kinder „süchtig“ nach Lob mache und sie manipuliere. Nicht zu loben sondern neutral-beschreibend zu kommentieren ist auf diversen Mütterblogs und -foren derzeit offenbar der Trend der Stunde.
Dann wieder finden sich begeisterte Artikel darüber, wie akkurat strukturierte Belohnungssysteme den Alltag mit Kindern erleichtern und bei jedweder Tätigkeit in Haushalt oder für die Schule um Smileys, Sticker oder Punkte verhandelt wird.

Was mir vermehrt auffällt: mir sind viele dieser Artikel zu einseitig und sie gehen zu wenig flexibel auf die unterschiedlichen Realitäten ein, in denen wir nun mal leben. Daher fühle ich mich nun dazu bemüßigt, meine Erfahrungen diesbezüglich mit euch zu teilen – nach fast 15 Jahren als Ergotherapeutin habe ich schon sehr viele Kinder und ihre Familien kennengelernt. Und nach der Geburt unseres Sohnes vor 1 1/2 Jahren kann ich nun auch als Mutter sprechen – und soviel muss ich zugeben: als Mutter ist schon einiges anders als als Therapeutin, und es ist ziemlich spannend für mich, nun beide Seiten zu kennen und mich hier irgendwo durchzumäandern…

Darf ich noch loben?

Ich finde es eigentlich schade, dass viele Kommentare und Artikel im Netz momentan darauf abzielen, Eltern davor zu warnen „zuviel“ zu loben. Meine Erfahrung aus dem therapeutischen Bereich zeigt nämlich, dass Kinder bei uns tendenziell immer noch mehr geschimpft, getadelt oder kritisiert werden anstatt gelobt.
Das mag nun am Klientel liegen, da ich natürlich oft mit Kindern konfrontiert bin, die eher „schwierig“ im Verhalten sind. Und dies bei Eltern und PädagogInnen zu entsprechendem Feedback führt, wodurch sich ganz leicht eine Negativspirale ergibt, aus der auszusteigen gar nicht so einfach ist.
Loben und Anerkennung zeigen ist in diesem Fall etwas, was vor allem Eltern manches Mal erst wieder lernen müssen. Denn oftmals fällt es ihnen wirklich schwer überhaupt noch etwas Positives zu finden. Da sie zunächst das Bild vom „funktionierenden Kind“, das sie im Kopf haben, über den Haufen werfen müssen, um ihr reales Kind wahrhaftig zu sehen.
Denn häufig wird die Messlatte einfach zu hoch angelegt. Was heißt: vieles, was Erwachsene bei Kindern als selbstverständlich erachten (und daher als nicht lobenswert gesehen wird), ist für manche Kinder gar nicht selbstverständlich.
Denn für das hyperaktive Kind ist es tatsächlich eine Leistung, während dem Essen nicht dreimal aufzuspringen, sondern nur einmal.
Für das Kind mit niedriger Frustrationstoleranz ist es eine Leistung, erst beim zweiten Scheitern eines Bauprojekts die Bauklötze schreiend in  die Ecke zu schmeißen.
Für das Kind mit Konzentrationsproblemen ist es eine Leistung, wenn es sich mal ruhig für 15 Minuten mit einem Spielzeug beschäftigt.
Für die zwei Streithanseln im Kinderzimmer ist es eine Leistung, wenn sie sich mal einen halben Tag lang nicht die Haare kriegen.
Für das ungeschickte Kind ist es eine Leistung, anstatt sich in 5 Minuten fix und fertig anzuziehen, in derselben Zeit einen einsamen Socken auf das bockige Füßchen zu bugsieren – selbstverständlich ganz verwurschelt und verkehrt rum.
Für das Kind, das ständig in Opposition ist und partout immer genau das Gegenteil dessen macht was von ihm verlangt wurde, ist es eine Leistung, auf die Aufforderung herzukommen vier Schritte auf mich zuzugehen, bevor es doch umdreht und davonrennt.

Kaum würde es aber den Eltern einfallen, diese Verhaltensweisen zu loben. Weil sie die Leistung ihrer Kinder dahinter nicht erkennen. Da sie von einer allgemeingültigen „Norm“ ausgehen – und nicht von der intraindividuellen Norm ihres Kindes.

Um das Thema des Lobens differenziert beurteilen zu können, muss man sich also jedes Kind individuell ansehen – und seine eigenen Ansichten von „normal“ und „nicht normal“ hinterfragen.
In obigen Beispielen würde ich den Eltern vom hyperaktiven Kind z.B. empfehlen, es nicht für`s Aufspringen zu tadeln, sondern dafür zu loben, dass es so lange geschafft hat sitzen zu bleiben und heute nur ein einziges Mal aufgesprungen ist.
„Wow, ich bin so stolz auf dich, weil du es ein zweites Mal versucht hast!“ würde ich dem kleinen Wüterich aus Beispiel Nr. 2 sagen.
Dem unkonzentrierten Kind, das plötzlich ganz versunken und selbstständig spielt, gibt man einen Kuss und teilt ihm kurz mit, wie schön es ist, dass es sich so ein tolles Spiel ausgedacht hat.
Den Geschwistern, die so oft aneinander krachen, gibt man abends einen kleinen Applaus, weil sie sich NICHT gegenseitig an den Haaren gerissen haben.
Dem patscherten Schussel zollt man Bewunderung dafür, dass er sich so fleißig mit dem Socken abgemüht hat, und zieht ihn richtig herum an.
Und Mr. Unkooperativ hat ein Lob verdient, sobald er auch nur ansatzweise einen Schritt in die richtige Richtung macht.

Klingt paradox? Alles eine Frage der Perspektive 😉

Denn selbstverständlich gibt es Situationen, in denen es völlig absurd wäre, Kinder für oben genannte Verhaltensweisen zu loben. Denn für viele Kinder ist es (zumindest ab einem bestimmten Alter) ja tatsächlich normal, beim Essen sitzen zu bleiben, nicht aus Wut das ganze Zimmer zu zerlegen, sich allein in eine Beschäftigung zu vertiefen, dem Geschwisterchen keine Glatze zu verpassen, sich anzuziehen oder mehr oder weniger gern Aufforderungen nachzukommen.
DIESE Kinder ständig dafür zu loben, würde also wirklich als inflationäres Lob durchgehen (Stichwort: „Wos woa mei Leistung??“). Und permanent gelobt zu werden, egal wofür, kann unter Umständen sogar dazu führen, dass sie später in ein tiefes Loch fallen, weil sie spätestens als Erwachsene feststellen dass doch nicht jeder von ihnen produzierte Pups gefeiert wird und ihnen nicht für jeden noch so kleinen Handgriff Rosen gestreut werden.

Lob sollte also auf das einzelne Kind abgestimmt sein. Ein Kind ständig für etwas zu loben, dass für es selbst ganz normal und selbstverständlich ist, kann tatsächlich kontraproduktiv sein – und ich kann mir gut vorstellen, dass dadurch eine Dynamik entsteht, durch die gewisse Kinder manches überhaupt nur mehr tun, wenn sie dafür gelobt oder belohnt werden. Bzw. sehr leicht verunsichert werden, wenn das Lob einmal ausbleibt.
Ich muss mich also als Mutter eines begeisterten Viel-Zeichners nicht bei jedem Strich auf dem Papier vor überschwänglichem Lob überschlagen. Als Mutter eines unwilligen Wenig-Zeichners macht es aber unter Umständen Sinn, auch dem in 10 Sekunden hingefetzten Strichmaxerl gebührende Anerkennung zu zollen.

Und ja, ich bekenne mich dazu, dass diese Art von bewusst eingesetztem Lob Einfluss nimmt auf das Kind – manche mögen das vielleicht als manipulativ bezeichnen. Doch ich stehe zu der Meinung, dass nicht jede Art von Manipulation schlecht ist.
Nämlich wenn sie dazu führt, dass Negativspiralen oder eingefahrene Verhaltensmuster durchbrochen werden, und einst negativ besetzte Tätigkeiten wieder positiver wahrgenommen werden.
So gesehen agiere ich in der Ergotherapie sehr häufig „manipulativ“: kommt z.B. ein Kind zu mir in die Ergotherapie, das das Schreiben in der Schule verweigert, hat es meist die Erfahrung gemacht, dass es einerseits Schreiben überhaupt nicht mag, und andererseits zusätzlich noch ständig Streit mit den Eltern oder Stress mit der Lehrerin deswegen hat. Es gibt also bei allen Beteiligten nur negative Assoziationen zum Thema Schreiben.

Daher biete ich diesem Kind viele motivierende Aktivitäten an, in denen sich irgendwo fein- und graphomotorische Aufgaben verstecken. Plötzlich nimmt das Kind dann doch mal von sich aus einen Stift in die Hand (wofür es natürlich entsprechend gelobt wird). Irgendwann ist es dann auch bereit, sich für funktionelle Schreibübungen an den Tisch zu setzen, eventuell auch unterstützt durch ein Belohnungssystem wie einen Punkteplan.
Und so werden langsam alte Assoziationen gelöscht und das Schreiben mit positiven Erlebnissen verknüpft.
Ich möchte nicht behaupten, dass jedes Kind, das zum Graphomotoriktraining in die Ergotherapie kommt, zum passionierten Kalligraphen wird – manchen wird das Schreiben immer schwer fallen, sowohl motorisch als auch von der Motivation her. Aber sie lernen damit umzugehen und nicht über jeder Schreibaufgabe zu verweifeln und sich in stundenlangen Diskussionen darüber zu ergehen ob diese Tortur denn nun notwendig ist.

Wird ernstgemeintes, häufiges Loben oder auch ein vorübergehendes Belohungssystem in solchen Fällen gezielt eingesetzt, kann wirklich viel erreicht werden.
Es ist immer wieder schön zu beobachten, wenn Sätze wie „Das kann ich nicht“ nach einer Weile durch „Nicht helfen! Ich mach das alleine!“ ersetzt werden. Und ein Kind, das anfangs auf ganzer Ebene nur Unwillen ausgestrahlt hat, plötzlich der Ehrgeiz und die Freude am Tun packt.

Dennoch beobachte ich manches Mal mit Bauchschmerzen, dass Methoden, die ursprünglich aus dem therapeutischen oder pädagogischen Setting kommen und dort auch total Sinn machen, recht unreflektiert einfach in den normalen Alltag mit Kindern übernommen werden. Und dann so Dinge dabei herauskommen wie dass in Artikeln Belohnungspläne quasi für jede Familie als essentiell dargestellt werden. Obwohl die meisten Kinder solche externen Motivationsstrategien gar nicht brauchen und dadurch eher Abhängigkeiten von Belohnungen entstehen, die einem letztendlich irgendwann dann auf den Kopf fallen, wenn`s nicht mehr für jeden erledigten Task ein Zuckerl vom Chef gibt.
Oder permanent betont wird, wie wichtig es ist, beim Loben dazuzusagen, was genau und warum man es so toll findet. Und Eltern teilweise so verunsichert werden, dass sie jedes Mal zunächst 2 Minuten über den pädagogisch wertvollsten Wortlaut ihres Lobs nachdenken, bevor sie es hölzern aussprechen.
Oder Eltern sich ein Lob überhaupt verkneifen, weil derzeit neutrales Kommentieren à la „Oh du hast einen Turm gebaut“ propagiert wird. Dass es ihrem eigenen Naturell und ihrer momentanen Stimmung viel mehr entsprechen würde „Yeah, was für ein geiler Turm, du kleines Genie, du!“ zu brüllen, wird dabei außer Acht gelassen.
Beim nächsten Turm denken sie vielleicht: „Geh bitte, warum zeigt er den popeligen Turm her, letzte Woche hat er einen doppelt so hohen gebaut!“, zwingen sich aber ein: „Wow, was für ein toller Turm!“ ab, weil sie inzwischen einen anderen Artikel darüber gelesen haben, wie wichtig Loben für die Entwicklung des Selbstvertrauens sei. Dabei hätte ihnen in diesem Fall das „Oh du hast einen Turm gebaut“ tatächlich besser zu Gesicht gestanden.

Mein Rat als Therapeutin, aber auch als Mutter, ist – sehr salopp ausgedrückt: Tut euch nicht soviel an. Denn: allein der Umstand, dass ihr einen Artikel wie diesen hier lest, beweist, dass ihr offenbar zu der Art interessierter Eltern gehört, die ihr Verhalten und ihre Kommunikationsmuster ohnehin reflektieren. Glaubt mir: ihr braucht kein kompliziertes Coaching in Sachen Loben. Diejenigen, die das bräuchten, lesen leider blöderweise solche Artikel erst gar nicht.
Ihr hingegen müsst nicht denken, dass ihr als Eltern in jeder Situation perfekt und pädagogisch-wertvoll agieren müsst. Es reicht, wenn ihr einfach authentisch bleibt. Will heißen:

  • Bitte lobt einfach, wenn euch danach ist. So wie es eurer Emotion entspricht und wie euch der Mund gewachsen ist.
  • Wenn euch auffallend häufig nicht nach Loben ist und ihr in der „Ich schimpf nur noch“-Rolle feststeckt, hinterfragt, warum das so ist. Vielleicht überseht ihr etwas Lobenswertes? Vielleicht brauchen eure Normwerte quasi eine Neukalibrierung?
  • Ist euch tatsächlich nicht nach Loben, dann tut es nicht.

Ich bin sehr gespannt auf eure Meinung zu dem Thema! Wie haltet ihr es mit dem Loben?

8 Kommentare zu „Loben oder nicht loben, das ist hier die Frage!“

  1. Liebe Barbara, vielen Dank für Deine Sichtweise auch aus therapeutischer Sicht. Da bringst Du so einiges auf den Punkt. Ich komme ja aus der Fraktion des „Eher nicht zu viel lobens“ aber als Mutter von drei Kindern find ich doch so einiges schon mal super oder toll, voll cool und hurra. Weils einfach aus mir heraus will. Und ich sage auch immer allen Eltern: Bleibt authentisch, sonst wird das wirklich zu hölzern. Liebe Grüße, Nadine

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  2. Hallo, finde den Artikel total hilfreich! Speziell jetzt auch die Anregung zur Hilfe, weil wir grad leider ein negatives Erlebnis im KiGa hatten, das es erst zu verarbeiten gilt und ich jetzt eine neue Idee dazu hatte! Danke! Lg Gabriele

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